Im Rahmen der Mittelalter-Studien für mein Rabelais-Projekt beschäftigte
ich mich auch speziell mit den Musiktheorien des Mittelalters, die meist aus
außermusikalischen Gesichtspunkten einer präkonstituierten göttlichen
Weltordnung musikalische Grundprinzipien ableiten oder sich auf die Überlieferung
aufführungspraktischer Rezepte beschränken. Johannes Tinctoris sprengt
diesen Rahmen und gründet stattdessen auf dem Erfahrbaren, der vom "Erfolg"
bestätigten (zeitgenössischen) Praxis. In diesem Projekt soll die
Wahrnehmung, das sinnliche Hören, bezogen auf die zeitgenössische
Musizierpraxis an den von Tinctoris beschriebenen Wirkungen der Musik erkundet
werden.
Der erste Teil wurde am 24.9.2005 im echoraum aufgeführt.
Die Musiker:
Seppo Gründler (extended guitar, electronics), Josef Novotny (electronics),
Franz Schmuck (percussion), Günther Albrecht (synths).
Das Programm:
Effectus 7: Die Musik vertreibt die Traurigkeit (Franz Schmuck, Günther
Albrecht)
Effectus 10: Die Musik bewirkt die Ekstase (Franz Schmuck, Günther Albrecht)
Effectus 16: Die Musik stachelt den Mut zum Kampfe an (Josef Novotny, Günther
Albrecht)
Effectus 18: Die Musik vermehrt die Annehmlichkeit des Mahles (Josef Novotny,
Günther Albrecht)
Effectus 15: Die Musik erleichtert die Mühen der Arbeit (Seppo Gründler,
Günther Albrecht)
Effectus 9: Die Musik vertreibt den Teufel (Seppo Gründler, Josef Novotny,
Franz Schmuck, Günther Albrecht)
(Günther Albrecht).
Die Musik ist für Johannes Tinctoris keine abstrakt-mathematische, spekulativ
und deduktiv zu lehrende Wissenschaft, sondern eine empirische, induktiv zu
betreibende Kunstfertigkeit. So traut er auch vor aller Theorie dem lebendigen
Hören, dem auditus, die richtige Urteilskraft zu. Die Wahrnehmung, das
iudicium ex ore, das Urteil auf Grund des sinnlichen Hörens, wird zum
entscheidenden Kriterium. Für die Berechtigung dieser Kategorie der naturalis
delectatio als einer intentio musicae beruft sich Tinctoris auf Aristoteles.
Damit wird das Wertigkeitsverhältnis von theoretisierender Spekulation und künstlerischer
Praxis gegenüber dem Mittelalter umgekehrt. Die Spekulation tritt zurück, die
praktische Musik wird theoriefähig und allein theoriewürdig. Deren einziger
transzendierender Grundgedanke besteht jedoch seit alters in der Beziehung auf
die himmlischen Liturgen, die musizierenden Engel. Das hat sich auch bei Tinctoris
noch nicht geändert.
Vor allem eine seiner Schriften ist ein eindrucksvoller Spiegel für diese Situation:
der Complexus effectuum musices (nach 1475). Der Traktat ist der Prinzessin
Beatrix von Aragon und Neapel gewidmet. Tinctoris beschreibt darin, als Beweis
für ihre himmlische Herkunft, die Macht, Schönheit und Göttlichkeit der Musik,
ihre ingentes ... admirabiles et ut ita dicam divinos effectus. Mit den
effectus sind dabei nicht nur «Wirkungen» der Musik im psychologischen
Sinne gemeint, sondern ganz allgemein ihre Eigenschaften.
Effectus 1: Die Musik erfreut Gott (Musica Deum delectat). Jeder
Künstler auf Erden wird durch sein Werk erfreut; je vollkommener es ist, umso
mehr. Um wieviel mehr Gott, der keine Unvollkommenheit kennt. Die Musik ist
jedoch die ars perfectissima, da Gott durch sie am meisten ergötzt wird,
gemäß Cant. Salom. 2.: Sonet vox tua dulcis in auribus meis.
Mit vox tua ist die Stimme der Braut aus dem Hohen Lied gemeint,
die im Mittelalter als die Kirche verstanden wurde. In dieser Stimme der Kirche,
der himmlischen wie der irdischen, liegt der Gedanke des Lobgesangs beschlossen.
Effectus 2: Die Musik schmückt das Lob Gottes (Musica laudes Dei
decorat) Im Himmel wird Gott unaufhörlich Lob gesungen: Hinc in ecclesia
triumphanti perpetuis Dei laudibus insistentes eas quo magis decorentur cantare
dicantur. Deshalb hat David für die Irdischen die cantores begründet,
die vor der Bundeslade sangen: Rex autem David, verae religionis cultor,
Dei laudes decorari cupiens, cantores instituit qui coram archa faederis illas
decantarent. Und ebenso verordnete er, daß das Lob Gottes ab omnibus
variis instrumentis erklingen solle. Nach seinem Vorbild begründete Ambrosius
die christliche Kirchenmusik: Instar cujus regis institutionis, Ambrosius
primum in ecclesia Dei musica decorari ordinavit. Daraus resultiert die
Vorrangstellung der geistlichen Musik noch heute: Quorum (der Kantoren)
tantum praestantius est officium, quantum Deus, cui cantando devote serviunt,
rebus caeteris praestat.
Effectus 3: Die Musik vergrößert die Freuden der Seligen (Musica gaudia
beatorum amplificat). Der Zustand der Seligkeit ist vollkommen. Deshalb
gehört die Musik mit ihrer Vollkommenheit und Schönheit zum himmlischen Leben
der Seligen. Die musikalischen Instrumente bezeichnen die Glückseligkeit der
Seligen: Quoniam felicitatem animorum beatorum instrumenta musica significant.
Tinctoris versteht die musizierenden Engel auf gemalten Bildern als Hinweis
auf die Freuden der Seligen: «Wenn die Maler die Freuden der Seligen bezeichnen
wollen, dann malen sie Engel, die verschiedene Musikinstrumente spielen; das
würde die Kirche nicht erlauben, wenn sie nicht glaubte, daß durch die Musik
die Freuden der Seligen vergrößert würden». (Pictores etiam quando beatorum
gaudia designare volunt angelos, diversa instrumenta musica concrepantes depingunt;
quod quidem ecclesia non permitteret, nisi gaudia beatorum musica amplificari
crederet). Die musizierenden Engel in der Malerei bedeuten für Tinctoris
primär die Freuden der Seligen.
Effectus 4: Die Musik gleicht die streitende Kirche der triumphierenden
an (Musica ecclesiam militantem triumphanti assimilat). Dieser effectus
ist eng mit dem zweiten verwandt, da er vom Verhältnis der himmlischen und irdischen
Liturgie handelt. Unter Berufung auf den Hl. Bernhard sagt Tinctoris, daß die
Fröhlichkeit der Gott Lobenden den status caelestis habitationis repräsentiert.
Mit Augustin erinnert ihn der geordnete Zusammenklang verschiedener Töne an
die ideale Einheit des Gottesstaates: Diversorum sonorum rationabilis moderatusque
concentus concordi varietate compacta bene ordinatae civitatis Dei insinuat
unitatem. Himmlische und irdische Liturgie treten so zueinander in Entsprechung.
Effectus 5: Die Musik bereitet auf den Empfang der Segnung des Herrn
vor (Musica ad susceptionem benedictionis domini praeparat). Sie hat
damit eine Art propädeutische Funktion. Tinctoris führt diesen effectus
nicht weiter aus.
Effectus 6: Die Musik erweckt die Herzen zur Frömmigkeit (Musica animos
ad pietatem excitat). Das Singen in der Kirche soll erreichen, daß durch
die Ergötzung der Ohren auch schwächere Geister zur Frömmigkeit gestimmt werden.
Effectus 7: Die Musik vertreibt die Traurigkeit (Musica tristitiam
depellit). Mit Beispielen aus der Schrift und aus Vergil wird diese Kraft
der Musik belegt.
Effectus 8: Die Musik löst die Härte des Herzens (Musica duritiam
cordis resolvit). Als Belege führt Tinctoris Stellen aus Augustinus, Thomas,
Quintilian, Horaz, Statius und Vergil an.
Effectus 9: Die Musik vertreibt den Teufel (Musica diabolum fugat).
Als Beweis wird Davids Harfenspiel vor Saul angeführt.
Effectus 10: Die Musik bewirkt die Ekstase (Musica exstasim causat).
Dafür folgen Beispiele aus dem Psalter, aus Aristoteles und Quintilian.
Effectus 11: Die Musik erhebt den irdischen Geist (Musica terrenam
mentem elevat). Sie hat beseligende, verklärende Kraft. Tinctoris erwähnt
hier den Jubilus, der den Geist durch die Süßigkeit seiner Harmonie zum Schauen
der himmlischen Freuden (ad contemplationem, gaudiorum supernorum) hin
zu bewegen vermag.
Effectus 12: Die Musik hält den bösen Willen zurück (Musica voluntatem
malam revocat). Als Beispiel führt Tinctoris die Pythagoras-Legende von
der Besänftigung der liebestollen Jünglinge aus Cicero und Quintilian an.
Effectus 13: Die Musik erfreut die Menschen (Musica homines laetificat).
Der eine wird mehr, der andere weniger durch die Musik erfreut; umso mehr, je
erfahrener er in der Musik ist, je mehr er ihre innere und äußere Natur erfaßt.
Die innere Natur beruht auf der virtus intellectiva, durch die die Gesetze
der Komposition, des Ausdrucks und Vortrags beurteilt werden. Die äußere Natur
ist die potentia auditiva, die sich am Klang ergötzt. Beide zusammen
machen erst die vollkommene Kenntnis (perfecta cognitio) und damit die
vollkommene Ergötzung (perfecta delectatio) aus: Perfectio igitur
delectationis musicae consistit in eius perfecta cognitione. Für Tinctoris
ist nur der ein vollkommener Musiker, bei dem zur Praxis die geistige Durchdringung
kommt. Sie richtet sich jedoch nicht wie früher auf kosmologische Zusammenhänge,
sondern auf den innermusikalischen Werkbereich.
Effectus 14: Die Musik heilt die Kranken (Musica aegrotos sanat).
Für die Heilkraft der Musik werden Asklepios, Avicenna und Galen angeführt.
Effectus 15: Die Musik erleichtert die Mühen der Arbeit (musica labores
temperat). Zitate aus Quintilian und Vergil belegen diesen effectus.
Effectus 16: Die Musik stachelt den Mut zum Kampfe an (Musica
animos ad proelia incitat). Hier werden die Bekannten Beispiele für die
Wirkung der Musik auf den Kampfesmut erzählt.
Effectus 17: Die Musik lockt die Liebe an (Musica amorem allicit).
Die sinnlich-erotische Wirkung der Musik wird kurz besprochen.
Effectus 18: Die Musik vermehrt die Annehmlichkeit des Mahles (Musica
jocunditatem convivii augmentat). Tinctoris geht aus von dem Satz aus Eccl.
32,7: «Wie ein Karfunkel den Glanz des Goldes, so vermehrt eine schöne Melodie
die Annehmlichkeit des Mahles». Dazu bringt er Beispiele aus Horaz, Vergil und
Quintilian. Zum Schluß bringt er auch diese Eigenschaft der Musik mit den himmlischen
Freuden zusarnrnen: «Wenn die Großen freigebig und feierlich speisen, dann sind
die Musiker dabei, die Sänger, Flötenbläser, Trommler, Organisten, die Citharisten,
die Hirtenpfeifen, die Tuba, die so schön zusarnmenklingen, daß es ein wahres
Abbild der himlischen Freuden zu sein scheint» (Magnatibus splendide ac solemniter
epulantibus, quod genus musicorum adesse sentimus, illic cantores, illic tibicines,
illic tympanistae, illic organistae, illic citharoedi, illic fistulae, illic
tubae, adeo melodiose concinentes, ut vera quaedam imago supernorum gaudiorum
esse videatur).
Effectus 19: Die Musik macht die in ihr Erfahrenen berühmt (Musica
peritos in ea glorificat). Hier nähert sich Tinctoris renaissancistischem
Denken in dem Doppelbezug auf die Antike und die stolze Gegenwart. Er bringt
Beispiele dafür, wie die Musiker in der alten Welt hochgehalten wurden. Aber
auch in seiner Zeit (nostro autem tempore) ist der Ruhm von Musikern
weit in alle Welt gedrungen, wie der von Dunstaple, Dufay, Binchois, Ockeghem,
Busnois, Regis, Caron, Carlerius, Mouton, Obrecht.
Effectus 20: Die Musik führt die Menschen zur Glückseligkeit (Musica
animas beatificat). Die Menschen werden durch den Gesang zur compunctio
cordis geführt. Deshalb erhielt der Gesang auch Einlaß in die Kirche. Da
nun die Seelen durch die compunctio zur Seligkeit geführt werden, spielt
die Musik, die zu dieser compunctio führt, eine ursächliche Rolle für
die Seligkeit. Tinctoris schließt mit dem Hinweis auf die jubilatio,
die dafür kennzeichnend sei.
(Aus: Die Musik der Engel : Untersuchungen zur Musikanschauung
des Mittelalters / Reinhold Hammerstein. - Bern : Francke, 1990. Kapitel VI:
SPHÄRENHARMONIE UND ENGELSGESANG, S. 139).